Episches Theater

Das epische Theaterstellt eine besondere Form des nicht-aristotelischen Theaters dar, das in seiner Konzeption auf Bertolt Brecht (1898 - 1956) zurückgeht.

Das epische Theater will:

    • einen aktiv mitdenkenden Zuschauer, der das Geschehen auf der Bühne als Spiel durchschaut und seine Lehren daraus zieht (Lehrstücke)

    • die Illusion des Bühnenerlebnisses aufheben

    • die Aktivität des Zuschauers vor allem durch sog. Verfremdungseffekte (V-Effekte) wecken

    • die Kritikfunktion des Dramas betonen und die Unterhaltungsfunktion zurückdrängen

Grundsätzliche Elemente werden deutlich in der Gegenüberstellung von dramatischem Theater und epischem Theater, die B. Brecht in den Anmerkungen zu seinem Drama Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny vorgenommen hat.

Der Zuschauer des dramatischen Theaters sagt: Ja, das habe ich auch schon gefühlt. - So bin ich. - Das ist nur natürlich. - Das wird immer so sein. - Das Leid dieses Menschen erschüttert mich, weil es keinen Ausweg für ihn gibt. - Das ist große Kunst: da ist alles selbstverständlich. - Ich weine mit den Weinenden, ich lache mit den Lachenden.

Der Zuschauer des epischen Theaters sagt: Das hätte ich nicht gedacht. - So darf man es nicht machen. - Das ist höchst auffällig, fast nicht zu glauben. - Das muß aufhören. - Das Leid dieses Menschen erschüttert mich, weil es doch einen Ausweg für ihn gäbe. - Das ist große Kunst: da ist nichts selbstverständlich. - Ich lache über den Weinenden, ich weine über den Lachenden.

(Brecht 1929)

Verfremdung

„Einen Vorgang oder einen Charakter verfremden heißt zunächst einfach, dem Vorgang oder dem Charakter das Selbstverständliche, Bekannte, Einleuchtende zu nehmen und über ihn Staunen und Neugierde zu erzeugen.”

(B. Brecht: Das Prinzip der Verfremdung. In: Schriften zum Theater I)

Der von Brecht gebrauchte Begriff des Verfremdungseffektes bezieht sich auf das epische Theater. Er bezeichnet dabei einen Darstellungsstil der kritischen Distanzierung, d.h. das „Vorzeigen" einer Rolle anstatt illusionistischen Spielens.

Brecht verwendet den Verfremdungseffekt, um die Aufmerksamkeit der Zuschauer vom Ablauf des Geschehens auf die Sinngebung des Geschehens zu lenken. Gleichzeitig werden sie in die Lage versetzt, das Verhalten der einzelnen Figuren mit einem gewissen Abstand kritisch zu beobachten und zu bewerten. Schließlich bringt der Verfremdungseffekt allgemein kulturelle und politische und nicht ausschließlich künstlerische Aspeke mit sich. Die Aufgabe des Verfremdungseffektes liegt darin, eine unüberlegte oder unterdrückte Alternative zu zeigen und auf die Möglichkeit zum Verändern indirekt durch Widersprüche und Unterschiede aufmerksam zu machen.

http://www.uni-greifswald.de/~dt_phil/litwiss/Gratz/Kartei/bb-verfremdung.html

Mittel der Verfremdung in der Textvorlage

    • Handlung in örtlicher und/oder zeitlicher Distanz

    • kein dramatischer Handlungsverlauf

    • austauschbare Szenen

    • ungewohnte Blickwinkel

    • Satire, gesellschaftlich Hochstehende werden der Lächerlichkeit preisbegeben

    • offener Schluss

Mittel der Verfremdung in der Theaterpraxis

    • Figur des epischen Erzählers

    • direkte Zuschaueransprache (Sprechen ad spectatores)

    • Inhaltsangaben vor der Szene (von einem Schauspieler gesprochen, auf Tafeln oder Spruchbändern bzw. durch Projektionen eingeblendet)

    • Kommentar durch Erzähler oder Songs

    • oft kein Vorhang, Theatermaschinerie ist sichtbar, Umbauten auf offener Bühne

    • neue Schauspielmethode: keine Identifikation mit der Figur, der Schauspieler spielt die Rolle, aber tritt auch manchmal aus ihr heraus

    • die Rolle/Figur ”zeigen”, nicht ”sein”

    • der Schauspieler hat Abstand/Distanz zu seiner Rolle, identifiziert sich nicht mit der Figur

    • oft Gebrauch von Masken, sparsamer Gebrauch von Kulissen

Ziel: Verhinderung von Identifikation.

Beispiel: Das bekannte Sprichwort „Der Mensch denkt, Gott lenkt.” verfremdet Brecht zu „Der Mensch denkt: Gott lenkt. / Keine Red davon!”

Bertolt Brecht (1898-1956), Über experimentelles Theater (1939)

[...] Die Einfühlung ist das große Kunstmittel einer Epoche, in der der Mensch die Variable, seine Umwelt die Konstante ist. Einfühlen kann man sich nur in den Menschen, der seines Schicksals Sterne in der eigenen Brust trägt, ungleich uns.

Es ist nicht schwer, einzusehen, daß das Aufgeben der Einfühlung für das Theater eine riesige Entscheidung, vielleicht das größte aller denkbaren Experimente bedeuten würde.

Die Menschen gehen ins Theater, um mitgerissen, gebannt, beeindruckt, erhoben, entsetzt, ergriffen, gespannt, befreit, zerstreut, erlöst, in Schwung gebracht, aus ihrer eigenen Zeit entführt, mit Illusionen versehen zu werden. All dies ist so selbstverständlich, daß die Kunst geradezu damit definiert wird, daß sie befreit, mitreißt, erhebt und so weiter. Sie ist gar keine Kunst, wenn sie das nicht tut.

Die Frage lautete also: Ist Kunstgenuß überhaupt möglich ohne Einfühlung oder jedenfalls auf einer andern Basis als der Einfühlung?

Was konnte eine solche neue Basis abgeben?

Was konnte an die Stelle von Furcht und Mitleid gesetzt werden, des klassischen Zwiegespanns zur Herbeiführung der aristotelischen Katharsis? Wenn man auf die Hypnose verzichtete, an was konnte man appellieren? Welche Haltung sollte der Zuhörer einnehmen in den neuen Theatern, wenn ihm die traumbefangene, passive, in das Schicksal ergebene Haltung verwehrt wurde? Er sollte nicht mehr aus seiner Welt in die Welt der Kunst entführt, nicht mehr gekidnappt werden; im Gegenteil sollte er in seine reale Welt eingeführt werden, mit wachen Sinnen. War es möglich, etwa anstelle der Furcht vor dem Schicksal die Wissensbegierde zu setzen, anstelle des Mitleids die Hilfsbereitschaft? Konnte man damit einen neuen Kontakt schaffen zwischen Bühne und Zuschauer, konnte das eine neue Basis für den Kunstgenuß abgeben?

Ich kann die neue Technik des Dramenbaus, des Bühnenbaus und der Schauspielweise, mit der wir Versuche anstellten, hier nicht beschreiben. Das Prinzip besteht darin, anstelle der Einfühlung die Verfremdung herbeizuführen.

Was ist Verfremdung?

Einen Vorgang oder einen Charakter verfremden heißt zunächst einfach, dem Vorgang oder dem Charakter das Selbstverständliche, Bekannte, Einleuchtende zu nehmen und über ihn Staunen und Neugierde zu erzeugen. Nehmen wir wieder den Zorn des Lear über die Undankbarkeit seiner Töchter3). Vermittels der Einfühlungstechnik kann der Schauspieler diesen Zorn so darstellen, daß der Zuschauer ihn für die natürlichste Sache der Welt ansieht, daß er sich gar nicht vorstellen kann, wie Lear nicht zornig werden könnte, daß er mit Lear völlig solidarisch ist, ganz und gar mit ihm mitfühlt, selber in Zorn verfällt. Vermittels der Verfremdungstechnik hingegen stellt der Schauspieler diesen Learschen Zorn so dar, daß der Zuschauer über ihn staunen kann, daß er sich noch andere Reaktionen des Lear vorstellen kann als gerade die des Zornes. Die Haltung des Lear wird verfremdet, das heißt, sie wird als eigentümlich, auffallend, bemerkenswert dargestellt, als gesellschaftliches Phänomen, das nicht selbstverständlich ist. Dieser Zorn ist menschlich, aber nicht allgemein menschlich, es gibt Menschen, die ihn nicht empfänden. Nicht bei allen Menschen und nicht zu allen Zeiten müssen die Erfahrungen, die Lear macht, Zorn auslösen. Zorn mag eine ewig mögliche Reaktion der Menschen sein, aber dieser Zorn, der Zorn, der sich so äußert und seine solche Ursache hat, ist zeitgebunden. Verfremden heißt also Historisieren, heißt Vorgänge und Personen als historisch, also als vergänglich darstellen. Dasselbe kann natürlich auch mit Zeitgenossen geschehen, auch ihre Haltungen können als zeitgebunden, historisch, vergänglich dargestellt werden.

Was ist damit gewonnen? Damit ist gewonnen, daß der Zuschauer die Menschen auf der Bühne nicht mehr als ganz unänderbare, unbeeinflußbare, ihrem Schicksal hilflos ausgelieferte dargestellt sieht. Er sieht: dieser Mensch ist so und so, weil die Verhältnisse so und so sind. Und die Verhältnisse sind so und so, weil der Mensch so und so ist. Er ist aber nicht nur so vorstellbar, wie er ist, sondern auch anders, so wie er sein könnte, und auch die Verhältnisse sind anders vorstellbar, als sie sind. Damit ist gewonnen, daß der Zuschauer im Theater eine neue Haltung bekommt. Er bekommt den Abbildern der Menschenwelt auf der Bühne gegenüber jetzt dieselbe Haltung, die er als Mensch dieses Jahrhunderts der Natur gegenüber hat. Er wird auch im Theater empfangen als der große Änderer, der in die Naturprozesse und die gesellschaftlichen Prozesse einzugreifen vermag, der die Welt nicht mehr nur hinnimmt, sondern sie meistert. Das Theater versucht nicht mehr, ihn besoffen zu machen, ihn mit Illusionen auszustatten, ihn die Welt vergessen zu machen, ihn mit seinem Schicksal auszusöhnen. Das Theater legt ihm nunmehr die Welt vor zum Zugriff. [...]

    1. Vgl. „Schriften zum Theater", Bd. 15, 16, 17 17a Vgl. Kap.6.7 dieses Bandes der Gesamtausgabe. Frankfurt 1967.

    2. In: Bertolt Brecht, Gesammelte Werke. Bd.15. S.300-303

    3. Vgl. Shakespeare, König Lear. Nachdem der König seinen Töchtern vorzeitig das Reich übergeben hat, überlassen sie ihn herzlos der Verwahrlosung und dem Wahnsinn.