Interpretation

Formen des Interpretierens

Die Interpretation (< lat. interpretatio = Erklärung, Auslegung) bezeichnet sowohl die Methode der Textbeschreibung und -deutung als auch deren Ergebnis.Es geht um das Verstehen von Literatur im Blick auf ein Einzelwerk, auf einen Autor, eine Gattung oder Epoche.

Im Gegensatz zum naiven Verstehen von Texten ist die Interpretation ein reflektiertes Verfahren, das sich auf die Voraussetzungen (z.B. auf Entstehung, Zeit, Stoff, Autor) ebenso bezieht wie auf den Gegenstand im Besonderen und die Methode selbst, z.B. das hermeneutische Verfahren.

Die Interpretation ändert je nach dem Ziel ihrer Fragestellung den Akzent:

Die werkimmanente Interpretation richtet ihr Interesse möglichst voraussetzungsfrei allein auf den Text in seiner strukturellen und stilistischen Gestaltung von Inhalten.

Die textexterne Interpretation bezieht extrapoetische Aspekte - also Entstehungsbedingungen i.w.S. und Rezeptionszeugnisse – in die Deutung mit ein.

Eine ganzheitliche Interpretation ist bestrebt, sowohl die inhaltlichen, strukturellen und stilistischen Elemente in ihrer funktionalen Beziehung zu erfassen als auch textexterne Aspekte angemessen zu berücksichtigen.

Weil Dichtung wesensmäßig immer multivalent und unauslotbar ist, wird heute nicht mehr d i e Interpretation als einzig gültige Lösung gesucht, sondern es wird ein Methodenpluralismus anerkannt, der unterschiedlichen Interpretationsansätzen folgen kann, der aber in sich stimmig, argumentativ auf den Text bezogen und glaubwürdig belegt sein muss.

Das Verfahren des hermeneutischen Verstehensprozesses läßt sich methodisch im Drei-Phasen-Modell realisieren.

Das Drei-Phasen-Modell der Interpretation, das in einem Prozess vom vorläufigen Gesamtverständnis über die Analyse von Einzelmerkmalen zur Synthese des differenzierten Gesamtverständnisses fortschreitet, folgt dem Verstehensmodell des sog. hermeneutischen Zirkels.

Die Hermeneutik ist die Kunst und Methodenlehre der sinn-und formgerechten Auslegung (Deutung, Interpretation) eines Werks. Sie wurde vom deutschen Philosophen Wilhelm Dilthey (1833—1911) als „Kunstlehre des Verstehens schriftlich fixierter Lebensäußerungen” zur entscheidenden geisteswissenschaftlichen Methode erhoben und gegen die kausalgesetzlich „erklärenden” Naturwissenschaften abgegrenzt. Hans-Georg Gadamer (1900—2002) baute diese Theorie in Wahrheit und Methode (196o) weiter aus.

Mit der Gliederung in Phasen wird ein Verstehensprozess bezeichnet, dem bei der Interpretation ein Schreibprozess entsprechen soll:

1. Phase:

    • Gesamteindruck (subjektive Leseeindrücke, Assoziationen, Rezitationsversuche), daraus erstes Primärverständnis mit Deutungshypothesen

    • Themenanalyse zur Ermittlung von Problem- und Aufgabenstellung.

Was ist zu tun?

    • Operatoren beachten

    • gründlich lesen

    • Verständnisfragen klären

    • unterstreichen

    • Stichworte notieren

2. Phase:

    • Stoffsammlung (tabellarisch mit Wechselbeziehung von Inhalt, Aufbau und Stil ohne vorschnelle Deutung)

    • Gliederung (chronologisch oder problemorientiert)

Was ist zu tun?

    1. Einleitung

        • Textart

        • Autor

        • Thema, allgemein ( Eckdaten)

    2. Hauptteil

        1. Das Erfassen des Textganzen

            • Welches Thema liegt dem Text zugrunde?

            • Wie wird dieses Thema bewertet?

            • Welches Aufbauprinzip ist auf den ersten Blick zu erkennen?

            • Wie ist aus deiner Sicht die Wirkung des Textes?

                • des vordergründigen Mitteilungsinhaltes?

                • der Idee, der Bewertung, der Stimmung?

        2. Die sprachliche Analyse

            1. Welche Satzarten weist der Text auf?

                • hinsichtlich der Grammatik ( z.B. Einwortsätze)

                • hinsichtlich der kommunikativen Wirkung ( z.B. Ausrufe-, Fragesätze)

                • hinsichtlich der Verknüpfung von Sätzen und Satzgliedern (z.B. Wiederholung, Parallelismus, Parataxe)

            2. Welche Wortwahl weist der Text auf?

                • nach Wortarten, Häufigkeit und Funktion

                • nach Zugehörigkeit zu bestimmten Themenkreisen

                • nach Stilschicht (z.B. Umgangssprache)

                • nach Ausdruckswert ( z.B. expressiv)

                • Fremdwörter, Neubildungen, Fachsprache

            3. Welche typischen Stilelemente sind zu berücksichtigen?

                • Erzählperspektive

                • Dialoge

                • “uneigentliches sprechen” ( Metaphern, Chiffre)

        1. Es gilt nachzuweisen, mit welchen sprachlichen Mitteln der Inhalt literarisch dargeboten wird. Setze Schwerpunkte und folge nie mechanisch der „Anleitung“! Stilistische Einzelbeobachtungen müssen unbedingt auf die Ergebnisse der Beschäftigung mit dem Textganzen bezogen werden.

    1. Schluss

        • eigene Meinung

        • Bezug zur Einleitung

        • offene Fragen oder über den Text hinausgehende Überlegungen

3. Phase:

    • Ausarbeitung (mit dem Ziel der Synthese von Einzelelementen zu einem differenzierten Sekundärverständnis, gegliedert nach Einleitung, Hauptteil und Schluss)

    • Korrektur (nach Inhalt, Aufbau und Stil).

Dabei sind drei Interpretationsarten den drei Gattungen entsprechend zu unterscheiden:

Gedichtinterpretation

– Die hoch artifiziell strukturierte Lyrik setzt ein besonders sensibles Wahrnehmungs- und Beschreibungsvermögen voraus.

– Neben dem Inhalt spielen Genre, Strophenform, Sprache und Stilfiguren eine dominierende Rolle.

– je nach dem Genre (z.B. Erlebnis-, Ideen- oder hermetische Lyrik) sind affektive, appellativ-kritische Tendenzen oder chiffrenhaft-dunkle Eigenarten besonders zu beachten.

Prosainterpretation

– Je nach der Textart (z.B. Kurzgeschichte, Novelle oder Roman) sind die spezifischen Eigenarten Ausgangs- und Zielpunkt.

– Strukturelle Aspekte – z.B. Vorausdeutungen oder Rückblenden und Montagetechniken – spielen eine wichtige Rolle.

– Für die Stilanalyse wer-den Sprachebene (z.B. Hochsprache oder Jargon), Syntax und Wortwahl in besonderem Maße relevant.

Drameninterpretation

– Dramen sind keine „Lesetexte”, sondern "Partituren" für Theateraufführungen. Aus der spezifischen Eigenart von Haupt- und Nebentext ergeben sich zwei Richtungen der Interpretation:

– Den Sprachhandlungen (Sprechakten) der Figuren (z.B. plaudern, verhören, drohen, argumentieren) gilt das Hauptaugenmerk im Blick auf

• Dialoge,

• Monologe und das

• Beiseitesprechen.

– Die Regieanweisungen steuern die Aktionen der Figuren, ihre Mimik, Gestik und Sprechweise. Szenenanmerkungen gelten dem Bühnenbild, den Requisiten, Kostümen, der Musik bzw. den Geräuschen.

Bei Vergleichen gilt für alle drei Gattungen, dass die Interpretation innerhalb eines Vergleichsrahmens und unter einem Vergleichsaspekt (oder mehreren Aspekten) stattfinden soll. Dabei sind Vor- und Nachteile des diachronen und synchronen Verfahrens zu prüfen. Stets aber sollte einer der beiden Texte das Schwergewicht erhalten, um der vergleichenden Interpretation ein klares Profil zu geben.

In der Phase der Stoffsammlung sollte je nach Textart und Aufgabenstellung geprüft werden, ob durch Textmarkierung und Annotation, über Grafiken (z.B. Blockbilder und Cluster) oder über tabellarische Darstellung das Ziel einer differenzierten und übersichtlichen Aufbereitung am besten zu erreichen ist.

Das gestaltende Interpretieren setzt ein zuverlässiges Textverständnis voraus, geht aber nicht analytisch vor, sondern will über den eigenen Schreibprozess Literatur besser verstehen lernen.

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