Homo Faber: Materialien

Aufbau und Erzählstrategie

Erzählte Zeit und Erzählzeit

Der Bericht des Ingenieurs Walter Faber über die Begegnung mit seiner - ihm bis dahin unbekannten und jetzt unerkannten - Tochter Sabeth, über den unbewussten Inzest mit ihr, ihren Unfall und Tod, die Wiederbegegnung mit Sabeths Mutter Hanna, über seine eigene, wohl zum Tod führende Krankheit ist klar gegliedert. Faber erzählt analytisch; er rekonstruiert die Vergangenheit: "Die Aufzeichnungen selbst sind unterteilt in zwei «Stationen«. Faber verfaßt die (S. 7-174) bereits krank in einem Hotelzimmer in Caracas [Erzählzeit: 21. Juni- 8. Juli]. Darin rekonstruiert er die Ereignisse vom verspäteten Abflug in New York bis zum Tod Sabeths [erzählte Zeit: 25. März - 28. Mai]. Die Aufzeichnungen der « Zweiten Station« [S. 175-220] stammen aus Fabers Aufenthaltszeit im Athener Krankenhaus [Erzählzeit: 19. Juli - Morgen des 26. Juli, des Tages der Operation]. Faber führt seinen rückblickenden " fort und fügt - in unterschiedenem Druckbild - seine jüngsten Tagebuchnotizen ein, so dass erzählte Zeit und Erzählzeit schließllich ineinander aufgehen" (Lubich, S. 43; zur Folge der Ereignisse vgl. unten). Schreibend erreicht Faber die Gegenwart; aber es ist die Gegenwart des Todes.

Freilich hat sich Faber, der Ingenieur, schreibend verändert. »[...] ich mache Erfahrungen nur noch, wenn ich schreibe«, wird Max Frisch in seiner autobiografischen Erzählung Montauk (1975) notieren (GW VI, S. 624) und damit zusammenfassend formulieren, was den Icherzählern seiner Romane - Stiller wie Walter Faber -schon immer widerfuhr. Walter Henze sieht einen «Wandel« Fabers vom «homo faber« der Ersten zum «homo religiosus« der Zweiten Station: "Die ungelöste Spannung zwischen Fabers Ingenieursdenken und der Mystik ist das strukturtragende Element des ganzen Romans" (S. 78). Jedenfalls ist es eine gewagte Erzählkonstruktion, da Max Frischs Roman Homo faber sich in Ichforum als Bericht des Ingenieurs Walter Faber über seine Schuld (S. 134,1) präsentiert. An dem vorgeblichen Mitteilungsdrang Fabers wurden daher bereits früh Zweifel laut: «Schon dass der Techniker Faber überhaupt schreibt, erscheint wie ein Widerspruch in sich selbst„, meinte etwa Walter Jens. Max Frisch erläuterte daraufhin in einem Gespräch mit Werner Koch: "Der «Homo faber« hätte nur rational gesprochen diese Nötigung [zu schreiben]. Er ist auf den Tod krank, und er versucht sich Rechenschaft abzulegen, d. h., er versucht sich zu verteidigen, dass er an allem nicht schuld sei. Es bleibt aber, das muss ich zugeben, ein Rest, der nicht ganz aufgeht. Das kommt daher, dass man natürlich als Schriftsteller zu sehr annimmt, dass fast jeder Mensch diesen Drang hatte, sich durch Sprache zu manifestieren, und das muss ein Ingenieur nicht haben. Also dort liegt eine kleine Unstimmigkeit - ohne Zweifel" (zit. n. Schmitz 1977, S. 16).

Die Sprache des Romans

Fabers Rechenschaftslegung im Bericht wird zur Zeugenaussage gegen ihn selbst; die Sprache - und dies ist die artistische Schwierigkeit, die Frisch zu meistern hatte - arbeitet gegen den Schreibenden. Thematisiert wird die Konkurrenz der Medien: Die poetisch überhöhte Wechselrede gilt in dem Roman als Zeugnis liebenden Verstehens (vgl. auf S. 163,15-165,4 das Metaphern"Spiel" mit Sabeth und auf S. 212,24-213,25 das Nachspiel in der Erinnerung), das "Erzählen" ist ein Zeichen der Freundschaft (S. 198,18-19 u. S. 215,29). Der Techniker Faber hingegen zog bislang den Blick der Rede vor und die vermittelte Wahrnehmung durch das »Kameraauge« (Haslers 1978) dem natürlichen Sehen. Der Sprache misstraut er: »Ich wollte gar nicht erzählen», erklärt er (S. 91,9); »ich sage nicht, was ich will, sondern was die Sprache will« (S. 194,2.8-29). Sein Abschiedsbrief an Ivy entsteht in einem Akt automatischen Schreibens; er ist gleichsah das Objekt der Schreibmaschine.

Das Problem führt freilich ins Zentrum von Max Frischs Schaffen: Dass der Autor kein Schöpfer, kein gottähnlicher Herr und Meister einer Sprachwelt, sondern vielmehr das Objekt der Sprache sei, ist eine spezifische Einsicht der Moderne, die Frisch seit dem Tagebuch 1946-1949 und dem Roman Stiller (1954) zur eigenen Erfahrung wurde (vgl. Schmitz 1985, S. Diese Erfahrung also hat er an die schreibende Titelfigur des "Ta gebuchromans" Homo faber delegiert:

»Im Fall von Homo faber hat es [die. verkürzte Ichperspektive] eine besondere Bewandtnis dadurch, dass dieser Mann, er ist Ingenieur, also nicht Literat, durch seine Sprache, die er verwendet für seinen Bericht, denunziert wird. Er spielt eine Rolle, er verfällt einem Bildnis, das er sich gemacht hat von sich. Er lebt an sich vorbei, und die Diskrepanz zwischen seiner Sprache und dem, was er wirklich erfährt und erlebt, ist, was mich dabei interessiert hat. Die Sprache ist also hier der eigentliche Tatort« (zit. n. Schmitz 1977, S. 17).

Obschon der Roman scheinbar monoperspektivisch angelegt ist, ergibt sich aus dein Gegeneinander des Icherzählers Faber und seines Textes eine antithetische Doppelperspektive, deren Sinnentwürfe sich wechselseitig relativieren. Frisch hat diese raffinierte Struktur, da er sie bereitwillig erläutert, offenbar auch bewusst und virtuos gestaltet:

»Der Witz des Buches, der Kniff ...] ist ja der: Es ist fast die unwahrscheinlichste Geschichte, die man sich ersinnen kann [... Da ist wirklich ein Zufall nach dem anderen: auf dem Schiff trifft er die Tochter; er trifft den Schwager seiner Frau [sic]. Gehen wir [...] von der Kunst des Schreibens, also von der Literatur aus: Wenn ich das mit Schicksalsgläubigkeit erzählen würde, so würde jeder mit Recht nach fünfzehn Seiten auflachen und sagen: "Das auch noch! Hab' ich's mir doch gedacht! Und wen trifft er jetzt?" Und (da trifft er die da. - Und der Witz daran ist, daß ein Mensch, der in seinem Denken die Zufälligkeit postuliert, eine Schicksalsgeschichte erlebt« (ebd.).

So erscheinen "die Fakten", auf die Faber so großen Wert legt - »Ich bin Techniker und gewohnt, die Dinge zu sehen, wie sie sind« (S. 25,27-28) - in einer eigentümlichen Brechung: einmal als protokollierte Empirie aus der Sicht des Ingenieurs, weiterhin aber aus einer anderen Sicht, von der Faber weiß, die er als erwartetes Deutungsschema unterstellt, deshalb verneint, aber in der Verneinung thematisiert.

Frischs Erzählstrategie übt im Anfangsteil dieses Verfahren mit dem Leser gleichsam exemplarisch ein: Faber betont: »Ich sehe alles, wovon sie reden, sehr genau, ich bin ja nicht blind« (S. 25,28-291. Dann formuliert er jeweils seine, vorgeblich einzig mögliche, "richtige" Sicht und die der anderen, die er als »hysterisch« oder »mystisch« abqualifiziert. Alan D. Latta (1979, S. 81) hat für diese Szene die Doppelperspektivik des Erzählens an zehn Beispielphänomenen tabellarisch dargestellt:

Was Faber demnach niemals akzeptiert, ist eine realitätserschließende Kraft der Metapher; aber da hier ein psychischer Mechanismus spielt, den Sigmund Freud (1836-1939) schon 1925 in seinem Aufsatz Die Verneinung beleuchtete, muss Fabers Rede als Verdrängung bewertet werden; er verneint, was er fürchtet.

So rückt die kunstvolle Erzählstrategie des Romans den Bericht des Ingenieurs, trotz der einsinnigen Erzählperspektive, in ein Wechselspiel von Antithesen, präsentiert und diskutiert eine Weltprojektion, die sich mit den Wertgegensätzen Mann/Frau, Amerika/Europa, Technik/Mythos präzise in die Muster des literarisch-kulturellen Diskurses der Fünfzigerjahre einfügt.