Gedichte in der Romantik

Ein Alternativentwurf: das romantische Gedicht

In den „Neuen Fragmenten" formuliert der romantische Dichter Novalis die Prinzipien, seinen und den Naturbegriff der frühen Romantik überhaupt - bestimmen. Sie lauten:

Die Poesie ist das echt absolut Reelle. Dies ist der Kern meiner Philosophie. Je poetischer, desto wahrer. (Neue Fragmente 27)

Poesie versteht er also nicht als Werk und Produkt des Menschen, sondern als die Dinge selbst - die Natur, die Schöpfung - sind „Poesie". Der poetische Gehalt der Natur ist für Novalis identisch mit dem Geist ihres Schöpfers. Die Dinge, denen sich der Mensch gegenübersieht, sind damit nur vordergründig „Natur": in Wirklichkeit sind sie Träger des Göttlichen, Medien oder Chiffren (= Geheimzeichen) der ihnen innewohnenden absoluten Poesie, der „Universalpoesie". Was auch immer die Naturwissenschaften, die auf Vernunft und Verstand basieren, an ihnen zu erfor­schen vermögen bezieht sich lediglich auf das Äussere, bloss Gegenständliche. Das innerste Wesen der Dinge. die in ihnen verborgene Poesie. kann durch sie nicht erfasst werden. Die Natur bleibt bei wissenschaftlich orientierter Betrachtung, laut Novalis, "eine versteinerte Zauberstadt".

Dadurch, dass die Dinge der Natur als Träger der absoluten Poesie gelten, verlieren sie an gegenständlichem Wert. Dinge und Worte. ihres Realgehaltes beraubt, sind lediglich „Tasten", die zum Klingen gebracht werden, sobald der Dichter sie berührt. -" ..Der Poet braucht Dinge und Worte wie Tasten," heisst es hei Novalis. Das Wortes auf eine blosse Vermittlungsfunktion reduziert. Dies führt zu seiner Austauschbarkeit und dazu, dass nur noch ein sehr begrenztes Arsenal besonders poetisch klingender Wörter verwendet wird, wie es ja in der romantischen Lyrik tatsächlich der Fall ist. Der sehr begrenzte Vorrat lyrischer Versatzstücke - Mond und Sterne, Wald und Reh - gilt infolgedessen auch heute noch häufig als Gegenstand und Vokabular des Lyrischen schlechthin. Mit dieser Auflösung der Wortinhalte geht die Auflösung der herkömmlichen, vernunftbestimmten Sinnzusammenhänge einher. Sprache und Sinngehalt werden getrennt. Nach Novalis entsteht das Gedicht der Zukunft aus „selbsttätiger, absichtlicher, idealischer Zukunftsproduktion - , es ist, wie Novalis formuliert, " ..bloss wohlklingend und voll schöner Worte - aber auch ohne allen Sinn und Zusammenhang - höchstens einzelne Strophen verständlich - es muss wie Bruchstücke aus den verschiedensten Dingen sein." Es soll entfernteste Elemente vermischen, durch metaphorische Verschränkungen die Grenzen zwischen Innen und Aussen aufheben, in „allseitiger Verfremdung" soll es den Blick auf die ."höhere Heimat" - der ursprünglich-absoluten Poesie freigeben.

Novalis: Schriften Bd. 3, hrsg. von Richard Samuel, Darmstadt 1969, S. 451 und 572

nach: Literatur, Struktur und Geschichte Schoening Verlag,