Merkmale des dramatischen Textes
Ebenso wie ein epischer Text hat der dramatische Text die Strukturelemente Figur, Geschehen und Raum. Das Material wird zu einem zusammenhängenden Stoff geformt. Haupt- und Nebenmotive geben wie auch im epischen Text durch Wahl und Ausgestaltung Auskunft über die Probleme und Urteile, auf die es dem Autor ankommt. Jeder Autor einer dramatischen Form muss aber die Aufgabe lösen, Inhalte als Handlung durch agierende Personen in einem bestimmten zur Verfügung stehenden Zeitraum darstellbar zu machen. Die Lösung dieser Gestaltungsaufgabe erfolgt in drei aufeinander bezogenen Teilaufgaben:
Aufbau der Handlung,
Aufbau der handelnden Personen,
Aufhebung des Ausschnittcharakters der Handlung durch Einführung in die Vorgeschichte (Exposition).
Die Gesamtaussage des Dramas entsteht aus dem Zusammenwirken aller Ausdruckselemente: der sprachlichen und nichtsprachlichen. Auffälligstes Merkmal des Dramas ist die Darbietung der Handlung in Dialogform. Der Autor bzw. Erzähler tritt hinter die agierenden Personen zurück. Die Erzählerfunktion fehlt. Alles, was dem Zuschauer mitgeteilt werden soll, muss ihm durch das Miteinander oder Gegeneinander der handelnden Personen übermittelt werden: die Gedanken und Gefühle der Personen, die Vorgeschichte der Handlung, das Geschehen außerhalb des Ortes der Handlung. Die Dialogform, in der die Personen einander in irgendeiner Form dauernd zugeordnet sind, eignet sich zur Darstellung von Konfliktgeschehen, und Konflikt enthält Spannung. Konflikt und Spannung sind deshalb zentrale Begriffe bei der Analyse eines Dramas:
Welcher Konflikt wird dargestellt?
Wie stellt der Autor die Entstehung des Konflikts dar?
Zu welchem Ende führt er den Konflikt?
Aufbauprinzipien des Dramas
Die Struktur der Handlung - Handlungstypen
Der Aufbau eines Dramas läßt sich nach der Struktur seiner Handlung beschreiben:
Entscheidungs- oder Konfliktdrama Das vorherrschende Schema des Handlungsverlaufs besteht aus der Entwicklung eines Konflikts, seiner Zuspitzung und seiner Auflösung in einem versöhnlichen oder zerstörerischen Ende. Beispiele: Schiller, Maria Stuart; Goethe, Iphigenie; Hebbel, Maria Magdalena; Hauptmann, Die Weber.
Analytische Drama, auch Entdeckungs- oder Enthüllungsdrama Die Handlung dieses Dramentyps ist auch zielgerichtet, allerdings auf das Aufdecken eines Ereignisses hin, das bereits vor Beginn des Stückes geschehen ist. Beispiel: Sophokles, König Odipus. Die Gerichtsverhandlung - wie z. B. in Kleists Komödie „Der zerbrochene Krug” - ist ein dem analytischen Drama besonders angemessenes Darstellungsmittel.
Die Zeitstruktur im Drama
Das Drama ist ein durch Rollenträger vorgeführtes Geschehen. Kennzeichnend für das Drama ist eine Dynamik des Geschehens, eine Bewegung auf ein Ziel hin. Dadurch wird Spannung erzeugt, die auf den Zuschauer/Leser die stärkste Wirkung hat. Die fiktive, vorgespielte Wirklichkeit einer dramatischen Handlung ist ein Stück aus einem größeren Handlungszusammenhang. Die Bühnenhandlung zeigt also nur einen Teil des Stoffes. Der Autor muss sie auf eine knappe Raum-Zeit- und Geschehnisspanne, die in der Regel Endphase einer langen Entwicklung ist, beschränken. Gleichzeitig aber muss er den Zuschauer in die Lage versetzen, die Stellung des „Stücks” im ganzen Handlungszusammenhang zu überblicken; folglich muss er den Teilcharakter des Stückes aufheben. Zu diesem Zweck versucht der Autor, die Handlung zu konzentrieren, d. h., eine Verflechtung der vorwärtsweisenden und der vergangenen und rücklaufenden Beziehungen zwischen den handelnden Personen und damit deren Vergangenheit und Zukunft zu erreichen, die häufig als im wirklichen Leben unwahrscheinlich oder sogar unmöglich erscheint. In Vor- und Rückgriffen auf die fiktive Geschichte der handelnden Personen werden deren Vorgeschichte und Zukunft auf der Bühne fortschreitend vergegenwärtigt. So wichtig dabei auch die Vergegenwärtigung der Vergangenheit ist (denn aus ihr kann der Zuschauer Motive des Handelns der Personen, Konflikte und Zwänge, in denen sie stehen, ableiten), entscheidend ist die fortschreitende Vergegenwärtigung der Zukunft, die Ausrichtung des Dramas auf ein Ende. Aus der fortschreitenden Vergegenwärtigung der Zukunft entwickelt der Autor die Spannung, die vorrangiges Aufbauprinzip des Dramas und gleichzeitig Mittel der Zuschauerlenkung ist.
Mittel zur Gestaltung der Zeitstruktur
In diesem Abschnitt sollen einige wichtige dramatische Mittel vorgestellt werden, die der Autor benutzen kann, um die Zeitstruktur des Dramas herzustellen.
Formen zur Vergegenwärtigung von Vergangenheit
Wie erwähnt istein Drama als ein „Stück” aus einem gößeren Handlungszusammenhang und der Zuschauer empfindet das Drama erst dann als ein „Ganzes" , wenn er über die „Vorgeschichte” der handelnden Personen orientiert ist. Für den Dramatiker besteht die Aufgabe darin, die Vorgeschichte so in das Drama einzubetten, dass sie auf die Zukunft, d, h. auch auf den Gang bzw. das Ende des Dramas bezogen ist. Geschähe das nicht, bliebe sie ein Fremdkörper im Drama. Will man die Einbettung der Vorgeschichte untersuchen, kann man sich drei Fragen vorlegen:
Wie umfangreich ist die Vorgeschichte? Genauer: Ist vor Beginn des Dramas bereits viel geschehen, sind die Personen in ihrem Handlungsspielraum eingeschränkt, oder werden sie durch Umstände, die in der Vorgeschichte liegen, begünstigt? Die Vorgeschichte kann so dominieren, dass die ganze dramatische Handlung sich nur mit ihrer Analyse beschäftigt; andererseits kann die Vorgeschichte so unbedeutend sein, dass sie eine geringe Rolle spielt.
Wann wird die Vorgeschichte nachgeholt? Genauer: Geschieht es am Antang, nach und nach oder in der die ganze dramatische Handlung einnehmenden Analyse?
Mit welchen Mitteln wird die Vorgeschichte nachgeholt und für kommendes Geschehen aktualisiert? Genauer: Die Mittel zur Vergegenwärtigung der Vorgeschichte sind folgende (in Auswahl):
Erinnerung: In Monolog- oder Dialogform erinnert sich eine Person an die Vergangenheit z. B., Kindheit). Dieser Rückgriff geschieht nie um seiner selbst willen, sondern um neues Material für den Fortgang der Handlung zu bringen (vgl. Goethe, Faust 1, Im Studierzimmer).
Heimkehr am Anfang eines Stückes wird benutzt, um Vergangenheit zu vergegenwärtigen, und zwar in beiden Fällen: wenn der Zurückkehrende alles verändert oder unverändert vorfindet (vgl. Sophokles, Orestie; Hauptmann, Ein Friedensfest; Borchert, Draußen vor der Tür).
Gerichtliche Verhandlungen geben dem Dramatiker die Möglichkeit, die Vergangenheit in einer für den Zuschauer spannenden Form aufzurollen. Das Interesse des Zuschauers richtet sich gewöhnlich auf den Ausgang. Häufig endet die Verhandlung nicht mit einem eindeutigen Schuldspruch, sondern Gericht und Schuld werden problematisiert. (Vgl. Sophokles, König Ödipus; Shakespeare, Der Kaufmann von Venedig; Brecht, Der kaukasische Kreidekreis; Kleist, Der zerbrochene Krug.)
Die rückgreifenden Vorkommnisse, wie sie oben beschrieben worden sind, können an fast jeder Stelle des Dramas erscheinen. Das wichtigste Mittel, Vorgeschichte im Ganzen zu Beginn des Dramas nachzuholen, ist die Exposition. Gleichzeitig umreißt sie die gegenwärtige Situation der Personen, und schließlich enthält sie Ansätze für das zukünftige dramatische Geschehen, indem kommende Ereignisse angedeutet, vorweggenommen oder vorbereitet werden. Folgende Expositionsformen finden sich häufig:
Die erzählte Vorgeschichte: In Form eines erzählenden Prologs wird ein Vergangenheitsbericht gegeben, der häufig in die Gegenwart mündet und auch Zukunftsverweise enthält, Erwartungen im Zuschauer weckt, die im Laufe der Handlung erfüllt oder enttäuscht bzw. auf andere Bahnen gelenkt werden.
Die Vorgeschichte als Zustand: In eine gegenwärtige Handlung oder Situation wer-den Anspielungen und kurze Hinweise auf die Vergangenheit eingefügt. Mit den Rück-griffen verbinden sich eng Vorgriffe auf zukünftiges Geschehen.
Die aktualisierte Vorgeschichte: Die Vorgeschichte wird weder berichtet noch als Zustand geschildert, sondern die dramatische Aktion setzt sofort ein, und aus ihrem Verlauf ist die Vorgeschichte zu erschließen. Häufig wird Wissenswertes aus der Vorgeschichte nach dem dramatischen Auftakt dann in erzählenden Partien nachgeholt (z. B. belehrt das Handgemenge der Diener in der Eingangsszene von Shakespeares „Romeo und Julia” den Zuschauer über die Feindschaft der beiden Familien).