Übersicht der unterschiedlichen Interpretationsansätze
Übersicht der unterschiedlichen Interpretationsansätze
Um dichterische Texte zu verstehen, kann man textimmanente und textexterne Methoden anwenden. Dichtung ist vielschichtig, hat vielfältige Bedeutungsnuancen und sog. „Leerstellen”, die der Leser ausfüllen muss. Eine eigene Bildsprache und Symbolik bis hin zur schwer auflösbaren Chiffrierung müssen entschlüsselt werden.
Im literarischen Kommunikationsmodell sind die Beziehungen zwischen der Produktion (den Bedingtheiten und Zielen des Autors), dem Werk (dem Verweisungszusammenhang von Inhalt, Struktur und Stil) und der Rezeption (dem Leser in seiner Bedingtheit, seinen Erwartungen und seiner Leseweise) dargestellt:
Wegen der Vieldeutigkeit und Unauslotbarkeit von Dichtung und wegen der je verschiedenen Rezeption wird Interpretation als planvolle Methode der Textdeutung heute nicht mehr als ein Weg zu der einen Wahrheit verstanden. Auf diese Weise erfolgte früher häufig ein „Vergewaltigen, Zurechtschieben, Umfälschen” (Friedrich Nietzsche) von Literatur.
Wenn unter Interpretation heute die Anwendung von mehreren Interpretationsmethoden verstanden wird, so steht dahinter auch die Überzeugung, dass unterschiedliche Fragestellungen zu unterschiedlichen Antworten führen und dass je nach den Eigenarten des Textes einzelne Interpretationsansätze ergiebiger sind als andere. Die Erprobung mehrerer Methoden, das „synthetische Interpretieren” gilt heute als das für das richtige Verfahren.
Unzulässig aber sind ideologische Interpretationsansätze, die nicht der Erschließung des Textes dienen, sondern denen es nur um Selbstbestätigung mit Hilfe des Textes geht. Maßstab für die Angemessenheit einer Methode ist stets die Frage, wieweit sie geeignet ist, einen oder mehrere Aspekte eines Textes zu erschließen, ihre Aussage überzeugend zu begründen und glaubwürdig zu belegen. Wenn man von der auf Teilaspekte des Textes zielenden Textanalyse absieht, lassen sich vor allem drei grundlegende Interpretationsansätze herausstellen:
Die werkimmanente Interpretation (Inhalt, Aufbau, Stil, Aussageabsicht des Autors) versteht den literarischen Text als autonomes Kunstwerk, dessen Sinnpotenzial es im Zusammenspiel von Inhalt, Struktur und Stil zu verstehen gilt: „begreifen, was uns ergreift” (Emil Staiger: Die Kunst der Interpretation, 19571). Die Betroffenheit des Lesers ist Ausgangspunkt für eine Betrachtung, die ihre Einsichten aus dem Text selbst gewinnt, aus seinen strukturellen Elementen in ihrer Funktionalität. Ziel ist die Erhellung des Textsinns in seiner spezifisch dichterischen Erscheinungsweise. Der Kunstwert eines Werks bemisst sich dabei nach dem Grad der Stimmigkeit von Inhalt und Form. Die Gefahr, dass der Interpret /die Interpretin einer „Fehlleitung des Gefühls” zum Opfer fällt, wird durch die Sorgfalt der hermeneutischen Methode des Verstehens und durch das historische Wissen verhindert.
Die an den Produktionsbedingungen orientierte Interpretation lässt sich differenzieren:
Die biografische Methode bezieht Kenntnisse über das Leben des Autors/ der Autorin ein und prüft, inwieweit bestimmte Erlebnisse und Erfahrungen die Themenwahl und Gestaltung beeinflussen oder gar bestimmen.
Verwandt ist die psychoanalytische Methode, die ein Werk als Ausdruck seelischer Befindlichkeiten begreift — von Angst, Freude, Glück, Traumvorstellungen, Sehnsüchten etc. — und mit Hilfe psychologischer Erkenntnisse und Erklärungsmuster erschließen will.
Die geistesgeschichtliche Methode versucht, Literatur aus den kulturellen Strömungen ihrer Entstehung zu deuten. Sie stellt Fragen nach der Lebenssituation, den geistigen Impulsen aus der Philosophie, der Kunst, der Musik und den Wissenschaften, die ein Werk geprägt haben im Epochenzusammenhang (z.B. Barock, Klassik, Romantik etc.). Auf diese Weise lassen sich Einsichten darüber gewinnen, ob ein Dichter Vorläufer, richtungweisender Protagonist oder nachahmender Epigone in seiner Zeit war.
Die literatursoziologische Methode vertritt die Auffassung, dass neben den kulturellen Einflüssen im engeren Sinne auch die historisch-politischen und gesellschaftlichen Bedingungen — z.B. Krisenzeiten, Herrschaftsverhältnisse, Regierungssysteme und Sozialstrukturen — sowohl für das Entstehen von Literatur als auch für deren Verstehen untersucht werden müssen.
Innerhalb der wirkungsorientierten Interpretation unterscheidet man zwei Hauptrichtungen:
Die rezeptionsästhetische Methode geht vom Interesse des Lesers am Text sowie vom Vorhandensein mehrerer Deutungsmöglichkeiten aus. Im Frage- und Antwortspiel zwischen Leser und Werk kann nicht nur die (Be-) Deutung des Textes an sich, sondern zugleich sein Wert für den jeweiligen Leser ermittelt werden.
Die rezeptionsgeschichtliche Methode untersucht Reaktionen von Lesern über längere Zeiträume: Wie wird ein Text zu verschiedenen Zeiten von Menschen unterschiedlichen sozialen Standes verstanden und gewertet? Wie können die jeweiligen Interpretationen erklärt werden?
Standpunkte:
— „Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen und es klingt hohl, ist das allemal im Buch?” (Georg Christoph Lichtenberg, 1742 -1799)
„Und definieren würde ich die poetische Wirkung als die Fähigkeit eines Textes, immer neue und andere Lesarten zu erzeugen, ohne sich jemals ganz zu verbrauchen.” (Umberto Eco, geb. 1932)